Parabel: Der Baum.
Der Verlust grämte ihn und er hatte große Schwierigkeiten, sein Gleichgewicht zu halten. All seine Aufmerksamkeit und Kraft wurde davon in Anspruch genommen. Besonders im Sturm hatte er große Sorge, nicht entwurzelt zu werden. Er strengte sich an und reckte seine Wurzeln tief ins Erdreich. Auch bei ruhigem Wetter zog ihn die Last der einseitig vorhandenen Äste schief und er litt unter Verspannungen.
Alles verlief planmäßig. Sauber waren die Schnitte gesetzt, wurden fein verstrichen und der Schmerz würde vergehen. Er fühlte sich stark und sicher etwas klein, doch daran würde er sich gewöhnen. Das sagte auch der Fachmann und konnte ihn allen Ängsten zum Trotz beruhigen.
Bescheiden, wie er bereits geworden war, meinte er sogar, derart starke Wurzeln und ein so mächtiger Stamm seien eine Vergeudung an ihm. Bescheidenheit war sein neues Credo, dem er sich verpflichtet hatte.
Es wuchsen neue Äste, doch wurden diese vertragsgemäß jährlich verschnitten. Der Experte meinte, sie seien nicht tragfähig, da nicht in der ursprünglichen Statik. Das hatte er eingesehen und die umliegenden, säuberlich gepflegten Bäume und Hecken bestätigten das sofort. Erfahrenheit war schließlich schon immer etwas wert.
Doch eines Nachts träumte der Baum von riesigen starken Ästen und einer Krone, die in den Himmel ragte und ihn berührte. Er trotzte den Stürmen und bot den Wesen des Himmels, den geflügelten, Rastplatz und Schutz nach ihrem Ermessen. Seine Blüte und Samen brachten Jahr für Jahr Millionen kleiner Pflänzchen hervor, von denen manche ebenfalls zu großen Bäumen heranwuchsen. Des Tags quält ihn der Gedanke an diesen Traum und ein Wunsch wuchs in ihm.
Dieser Wunsch wurde zu einer Entscheidung. Welchen Lebenswert hatte es, ein eingeschränkter, wenn auch gut und fachgerecht gepflegter Krüppel zu sein.? Könnte er doch nur einmal erleben, wie sich wahre Größe und Stärke anfühlt… Er würde alles darum geben. Selbst seinen eigenen Tod würde er in Kauf nehmen, sollte das Wagnis scheitern.
Er kündigte alle Verträge, schlug die gut gemeinten Ratschläge der anderen StutzBäume in den Wind und ließ die unermüdlich drängenden Triebe gewähren.
Viele Jahre vergingen, ohne dass ihm die Zeit lang wurde. Aus Zweigen wurden Äste, die dick und stark wuchsen. Keiner der Befürchtungen trat ein. Nichts brach, nichts entwickelte sich gegen seine Natur. Im Gegenteil. Er folgte der Natur und alles schien ihm leicht und mühelos zu gelingen. Selbst sein Gemüt erhellte sich Tag um Tag dank der empfangenen Sonnenstrahlung.
Und dann… Geschah das Wunder. Der höchst emporgewachsene Ast berührte an einem Sonnentag tatsächlich den Himmel. Nicht so, das er es wirklich tat, doch es stellte sich das Gefühl großer und bisher unerreichbar erschienener Erhabenheit ein. Und als er lange in dem Gefühl geschwelgt hatte, tauchten plötzlich weit oben die geöffneten Schwingen eines Adlers auf. Er ließ sich auf dem obersten Ast nieder und genoss sichtlich die Stabilität seines neuen Aussichtspunktes.
Im Jahr darauf war ein großes Nest, ein Horst entstanden und eine Adlerin wärmte und schützte zwei weiße Eier. In den unteren Zweigen, im Dickicht der Krone, lebten und brüteten viele hunderte kleinere Vögel friedlich beieinander. Der Baum betrachtete all das mit großer, größter Freude und auch ein wenig Stolz. Er hatte sich selbst und seinem Gefühl vertraut, war der Gewissheit gefolgt und hatte Recht behalten. Auch entgegen all der gut gemeinten Empfehlungen.
Mathreej, 7/2019
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